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Kapitel 16

Bild: Yentl Fasel
Bild: Yentl Fasel

Es ist vorbei. Sie selbst realisiert das nicht. Es ist Ila, die mitbekommt, wie sich die Dunkelheit verflüchtigt. Ila nimmt wahr, dass die Hexe auf dem Asphalt liegt. Schutzlos in ihrer Nacktheit und zerstört, nachdem was ihr gerade widerfahren ist. Nur zögernd wagt es Ila, den Kontakt so weit zu lösen, um Cael zu rufen. Als dieser Ila zusammengerollt vor dem Kamin vorfindet, stürzt er sofort zu ihr. Alarmiert sucht er in ihrem Geist nach dem Grund, für ihren Zustand. Ila zeigt es ihm bereitwillig. Dankbar, dass sie dieses Grauen nicht in Worte fassen muss. «Sie braucht Hilfe», erklärt sie. Cael fühlt ihre Sorge um die Hexe, die irgendwo da draußen liegt. Er teilt sie und ruft seinen Stellvertreter Kyle und dessen Zwillingsbruder Björn zu sich. Noch wissen sie nicht, wo die Hexe ist und ob die Schweine, die ihr das angetan haben, noch in der Nähe sind. Kyle und Björn sind nicht nur erfahrene Kämpfer, sondern auch sehr gute Wächter. Auf sie kann Cael sich verlassen, sollte es brenzlig werden. Aber zuerst müssen sie die Hexe finden. Sie haben wenig Zeit. Draußen ist es kalt und wenn sie die junge Hexe nicht bald finden, wird sie erfrieren. «Kannst du über die Verbindung zu ihr ein Portal für uns öffnen?» Cael hofft, dass dies möglich ist. Ila hat weiterhin eine Verbindung zu der Hexe. Wenn sie diese intensivieren kann, könnte sie daraus ein Portal erschaffen. Ila zittert am ganzen Körper, ist kaum in der Lage ihre eigenen Empfindungen von jenen des Mädchens zu trennen. Aber sie hat keine Zeit, sich jetzt in diesen Emotionen zu verstricken. Nur sie kann diesem Mädchen helfen. Alles, was Ila jetzt tut, geschieht instinktiv. Das Wissen dazu scheint tief in ihr verwurzelt. «Stell dich hinter mich und halt mich», weist sie Cael an. Ila lehnt sich an seine breite Brust, gibt so viel Gewicht wie möglich an ihn ab. So behutsam wie sie nur kann verstärkt Ila den Kontakt zu dem Mädchen. Licht, hell wie das Sonnenlicht, erstrahlt, daraus formt sich ein Gang. «Das Portal ist offen.» Kaum hat Ila diese Worte gesprochen, springen Kyle und Björn auch schon hindurch. Einen kurzen Moment zieht Cael Ila an sich. Sie hat es tatsächlich geschafft. Er drückt ihr einen sanften Kuss aufs Haar, und folgt dann den anderen. «Sei vorsichtig. Und halt die Verbindung mit mir», bittet Ila noch.

Björn hält die junge Hexe bereits im Arm, als Cael neben ihm landet. Blonde Haare fallen wirr in ihr Gesicht. Ihr Körper ist schlaff, sie scheint bewusstlos zu sein. «Es ist Ella», presst Björn heraus. «Ella ist ihre Cousine», erklärt Cael. Er hat seinen Geist für Ila geöffnet, so bekommt auch sie alles mit. «Bringt sie her!», fordert Ila sie auf. «Sollen wir sie nicht besser ins Hope bringen?», überlegt Cael. Immerhin ist Ella bewusstlos und bereits eiskalt. Ila nutzt nicht den telepathischen Pfad, sondern das von ihr geöffnete Portal, so können auch Björn und Kyle ihre Worte hören. «Ich war bei ihr, als diese Tiere über sie hergefallen sind. Ich habe jede einzelne ihrer Verletzungen gefühlt. Es ist meine Aufgabe, sie zu heilen. Bringt sie her!» Ihre Stimme lässt keinen Zweifel an der Richtigkeit des Gesagten zu. Für Ila ist eines völlig klar. Es hat einen Grund, weshalb die Verbindung zwischen ihr und Ella entstanden ist, unmittelbar bevor sie überfallen worden ist. Voller Vertrauen in sich selbst, lässt sich Ila nur von ihrer Eingebung leiten. Noch bevor sich die drei Mgier mit Ella wieder im Wolfsturm manifestieren, ist Ila in eines der unzähligen Gästezimmer gerannt. Sie macht Licht. Dann ruft sie nach Fay, die sofort hellwach ist. «Fay, ich brauche Wolfswurz, Salbei und möglichst frisches Frauenmantelkraut», lässt sie ihre Freundin wissen. «Es steht am Waldrand für dich bereit. Mögest du Heilung schenken dürfen.»

Ein sanftes Ziehen zeigt Ila an, dass Cael sich an ihr hält, um sich direkt bei ihr zu manifestieren. Dicht aufeinander folgen Kyle und Björn. Letzterer hält die verletzte Ella dicht an seine Brust gedrückt im Arm. Nachdem Björn Ella vorsichtig auf dem Bett abgelegt hat, öffnet Ila ihm ein Portal zum Waldrand, damit er ihr die benötigten Kräuter holen kann. Ihr Gefühl sagt ihr, dass Björn den Eindruck haben muss, etwas tun zu können. Also wird sie ihn beschäftigen, so gut sie kann. Cael und Kyle weist sie an, Kerzen rund um das Bett anzuordnen. Nachdem das alles getan ist, konzentriert sich Ila auf die junge Hexe vor ihr. Die Verbindung besteht noch immer. Ella scheint sich geradezu an sie zu klammern. So sanft wie möglich löst Ila sich von ihr und lässt ihren Geist durch ihren Körper wandern. «Die Verletzungen sind nicht schwer. Jedenfalls die körperlichen», lässt sie die Magier im Raum wissen. Viel gravierender sind die Wunden in Ellas Seele. Auch diese sieht Ila deutlich. Bisher ist ihr noch nie aufgefallen, dass sie das kann. In den Katakomben hat Ila sich immer nur um das Offensichtliche gekümmert. Doch hier ist gerade alles anders. Diese junge Seele, die gerade noch voller Zuversicht, Neugier und Tatendrang gewesen ist, hat sich in eine blutende klaffende Wunde verwandelt. Einiges ist zerbrochen und so vieles zerstört. Tränen steigen in ihr hoch und rinnen ihr über die Wangen. Ila weint um diese Junghexe, die ihrer Weiblichkeit beraubt wurde. Gleichzeitig ist Ila jedoch nicht bereit, dies so einfach zu akzeptieren. Was sie für Ella tun kann, wird sie tun. «Ich bitte euch, mich nun mit Ella allein zu lassen.» Björn will schon widersprechen. Ila fühlt seinen Schmerz und auch seine Schuldgefühle. Doch sie bleibt unnachgiebig. Was sie tun will, kann nur gelingen, wenn sie mit ihr allein ist. «Ich weiß, es ist schwer. Aber ich kann ihr nur helfen, wenn wir allein sind.» Cael legt die Hand auf Björns Schulter und begleitet ihn hinaus. «Lass mich wissen, wenn du etwas brauchst», bittet er sie. Ila nickt nur. Sein Vertrauen in sie, macht Ila stark. Sie wartet, bis sich die Tür hinter den Magiern schließt. Sie denkt an ihre Ausbildung und was sie da über Seelenheilung gelernt haben. Einer der Lehrer hat damals gesagt: «In euch ist alles, was ihr braucht. Ihr müsst es nur tun.» Und so vertraut Ila jetzt einfach auf ihre Intuition und tut, was ihr Geist ihr eingibt.

Reinigung ist das Erste, was Ila tut. Sie beginnt bei sich. Dazu entzündet sie den getrockneten Salbei, lässt sich vom Rauch einhüllen und tilgt die Spuren des Übergriffs aus ihrem Geist. Sie löst sich vom Schmerz der jungen Hexe, der Scham, der Schuld und dem ekelerregenden Rest dieses dunklen verdorbenen Geistes, der auch sie berührt hat, als sie Ella beigestanden ist. Alles das übergibt sie dem Rauch und schickt diesen dann aus dem offenen Fenster. Ella kann sie im Moment nur körperlich reinigen. Mit warmem Wasser, welchem sie getrockneten Wolfswurz zugesetzt hat, wäscht sie Ella. Sie tut es sehr vorsichtig und behutsam. Ihr Körper ist mit blauen Flecken und tiefen Kratzern übersät. Obwohl sich Ella nicht gewehrt hat, wurde ihr Körper sehr stark versehrt. Als Ila sich Ellas Schambereich nähert, zuckt diese zusammen und wimmert leise. Sanft redet Ila auf sie ein. Die Hexe beruhigt sich wieder und lässt zu, dass Ila sie auch da säubert. Im Korb, welchen Fay für sie am Waldrand hinterlassen hat, entdeckt Ila ein Leintuch. Ila riecht daran und erkennt: Dieses Leintuch wurde mit Eisenkraut geräuchert und ist somit eines der besten Mittel gegen Hämatome. So ist Fay. Sie ist Heilerin, immer. Darum hat sie weiter gedacht und auch verstanden, was Ila brauchen wird, um ihre Aufgabe hier zu erfüllen. Durch die Verbindung zu ihr, muss Fay begriffen haben, was geschehen ist. Zutiefst berührt sendet Ila ihrer Freundin einen Dank. Dann wickelt sie Ella in das Tuch. Die junge Hexe entspannt sich sichtlich darin. Es lindert die Schmerzen ihres geschundenen Körpers. Nachdem die Reinigung abgeschlossen ist, soll nun die Heilung folgen.

 

 Ila bewegt sich auf völlig fremdem Terrain, da die Heilung einer Seele in ihrer Ausbildung nur am Rande erwähnt wurde. Die körperliche Heilung hatte deutlich mehr Raum eingenommen, da sie alle davon ausgegangen waren, dass Ila ihr Können nur in den Katakomben ausüben wird. Seelische Heilungen sind dort nicht gefragt. Und so bleibt Ila nichts anderes übrig, als sich auf ihre Eingebung zu verlassen. Sie entzündet die Kerzen und löscht das künstliche Licht. Ausschließlich auf die verwundete Seele konzentriert, lässt Ila sich selbst los. Die Umgebung um sie verschwimmt, ihr Atem verlangsamt sich, die Geräusche werden leise. Sie schwankt leicht, glaubt den Boden unter den Füßen zu verlieren. Es fühlt sich an, als würde sie sich selbst auflösen. Ila bemerkt, dass sie in diesem Zustand überallhin verschwinden kann. Angst überkommt sie, in ihrer Haltlosigkeit könnte sie ihre irdische Hülle ganz verlassen und in das Licht gehen, das sie bereits neben sich spürt. Sie will schon abbrechen, da greift Cael ein. Seine große magische Kraft stellt sich zwischen sie und das Licht. Ihre Seele erkennt ihn und gibt sich wie selbstverständlich in seine Obhut. Sie fühlt seine Liebe in sich, die sich warm in ihrem Körper ausbreitet. Sein Geist hält ihren umfangen. Gibt ihr Kraft und Halt. Und dann geschieht es wie von selbst, so wie Magie ist. Zuerst bilden sich die Worte in ihr, die Klänge folgen. Leise, aber unendlich sicher singt Ila ihren Heilgesang für Ella. 

Gravik: Canva/ Text: P. Tschannen
Gravik: Canva/ Text: P. Tschannen

Während sie leise und doch kraftvoll singt, fließt Licht aus Ila heraus. Weißes, schimmerndes Licht, das sich im Zimmer ausbreitet und dann den Weg zu Ella findet. Es hüllt Ella zuerst ein und scheint dann in sie hineinzufließen. Ila singt und singt. Und irgendwann nimmt sie wahr, dass Cael draußen ihre Melodie auf dem Flügel begleitet. Die Verbindung zwischen ihnen leuchtet kurz in ihr auf. Ein sanftes Flirren umgibt Ila. Eine Vernetzung scheint sich aufzumachen. Gibt ihr Ruhe und Zuversicht. Ila ist nicht allein, sie war es nie und wird es auch nie sein. Ellas Seele hört auf zu bluten. Noch immer ist sie zutiefst verwundet, doch eine Heilung scheint zumindest möglich. Ila beendet ihren Heilgesang mit den Worten: «Du wirst sein, wer du bist. So soll es sein.» «So sei es», bekräftigen die Magier vor dem Zimmer, die sie gehört haben. «Wollt ihr mit mir wachen, bis die Kerzen niedergebrannt sind?», fragt Ila nach. Voller Ehrfurcht betreten sie das Zimmer. Keiner sagt ein Wort, so ergriffen sind sie von dem Wunder, das hier gerade geschehen ist. Cael legt seine Arme um Ila. Björn drückt Ila eine dampfende Tasse Tee in die Hand. «Ingwertee», erkennt Ila erstaunt. «Er lag im Korb, mit dem dringenden Hinweis, dass ich dafür sorgen soll, dass du ihn trinkst», erklärt Björn. «Fay», lächelt sie und schickt ihrer Freundin nochmals Dank für ihren Beistand. Cael lässt Korbstühle für sie alle erscheinen. Er setzt sich auf einen davon und zieht Ila auf seinen Schoß. Sie kuschelt sich an ihn. Es tut ihr gut, ihm jetzt so nahe zu sein. Irgendwie scheint er ihre Kräfte wieder aufzuladen. Björn und Kyle setzen sich in die Stühle gegenüber. Schweigend betrachten sie die schlafende Ella. Für sie beide ist es absolut unfassbar, dass ihrer Cousine so etwas Furchtbares widerfahren ist. Beide fühlen sie sich schuldig. Glauben, sie hätten besser auf sie aufpassen sollen. «Ich weiß, dass es nichts hilft, wenn ich euch sage, dass es nicht eure Schuld ist.» Ila hat die Gefühle der beiden Krieger wahrgenommen. Beide blicken Ila an. Sie wissen, dass Ila Recht hat. Das macht es für sie jedoch nur noch schlimmer. Zu wissen, dass sie nichts hätten tun können, um Ella das zu ersparen, schmerzt die beiden Brüder. Und auch jetzt können sie nichts für Ella tun. Einzig Ila hat die Macht, etwas zu ändern. Noch immer ist ein leises weißes Leuchten an ihr zu erkennen. Kyles Stimme ist rau als er sagt: «Ilarja Delay, unsere Familie steht auf immer in deiner Schuld. Sei dir unserer Loyalität stets gewiss. So soll es sein.» Björn hebt den Kopf und blickt ebenfalls Ila an und bestätigt: «So sei es.» Ila will schon sagen, dass dies doch nicht nötig sei. Da realisiert sie, dass die Worte als Formel gesprochen und somit bindend sind. Diese jetzt abzulehnen, wäre eine Beleidigung. Und so nickt sie den zwei Kriegern nur kurz zu. Die Verehrung, die sie ihr zuteil werden lassen, ist ihr ein wenig unheimlich. «Es ist so hart, dass wir nichts für sie tun können», murmelt Björn. «Ihr könnt etwas tun. Etwas sehr Wichtiges. Seid für sie da. Nicht nur heute Nacht. Immer. Vor Ella liegt ein langer beschwerlicher Weg der Heilung. Steht ihr bei. Gebt ihr die Sicherheit, die sie braucht, um zu trauern, um das, was sie verloren hat. Sie wird nicht nur weinen, und traurig sein, sie wird verdrängen, sie wird fragen, warum sie und sie wird wütend sein, auf das was passiert ist. Seid dann für sie da und gebt ihr und ihren Emotionen Raum», gibt Ila zurück. Diesmal sagen sie es nicht laut, aber beide Brüder versprechen Ella genau das. Ellas Geist nimmt dieses Versprechen wahr und vertraut von diesem Augenblick an darauf. Ila selbst betrachtet die junge Hexe. Ihr Weg ist noch weit. Schon morgen wird Ila sie aufwachen lassen müssen. Es ist nicht gut seelisch Verwundete zu lange vor der Realität zu schützen. Außerdem wird sich die Progista bald melden. Ein solcher Überfall wird nicht unentdeckt bleiben. Wahrscheinlich sind sie bereits darüber informiert. «Unmittelbar nachdem wir sie geholt haben, sind Ezekiel und seine Leute dort gewesen», bestätigt Cael ihre Vermutung. Niemand weiß, wie die Progista jeweils zu ihren Informationen kommt. Manchmal sind sie sogar bereits zur Stelle, bevor ein Verbrechen überhaupt geschieht. «Ich nehme an, dass er spätestens morgen hier auftauchen wird. Ob der Überfall mit der Cumbatsidat zu tun hat oder nicht, er ist außerhalb dieser geschehen. Ezekiel wird sich nicht davon abhalten lassen, den Fall zu untersuchen und die Täter zu stellen», fährt er fort. «Kennst du ihn?», fragt Ila. Cael schüttelt den Kopf. «Nicht besser als alle hier. Ezekiel ist der Alpha der Progista und ein harter Hund.»

 

©by Patricia Tschannen, 2024

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