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Blinde Flecken

Foto: Eve Kohler
Foto: Eve Kohler

Meine Lieben,

Die Defizite der Spitäler schrecken auf. Vor allem medial. Mehrere Interviews, Berichte und Kommentare wurden bereits abgegeben. Es wird erklärt, woran es liegt, was jetzt gemacht werden muss. Mir liegt es fern in diesem komplexen Konstrukt, das unser Gesundheitswesen nun einmal ist, zu behaupten, ich hätte des Rätsels Lösung. Ein paar Stichworte hätte ich da allerdings schon.

-        Geschlossene Betten wegen Fachkräftemangel

-        Massiv kostenintensive Behandlungen während der Pandemie, die nicht gedeckt waren

-        Ein Gebilde von Fallpauschalen, welche die Leistungen der Pflege ungenügend abbilden, unsere Arbeitgeber werden also für die Leistungen, die wir erbringen unzureichend bezahlt.

-        Mechanismen in den Fallpauschalen, die dafür sorgen, dass Patient*innen mit Komplikationen, die mitunter von Privatspitälern in Zentrumsspitäler verlegt werden und dort vom ersten Tag an defizitär sind.

 

Das sind alles Dinge über die nicht nur diskutiert, sondern die dringend angegangen werden müssen, wenn nicht gewollt wird, dass unser Gesundheitssystem finanziell kollabiert. Kleiner Spoiler: wenn es finanziell kollabiert, wird es auch nicht mehr tun können, was es soll: Verletzte, Kranke und Gebrechliche behandeln, Leben retten, Leiden lindern. Auf Deutsch, es wird Leid und Tod zur Folge haben.

Zugegeben, meine zeitlichen Ressourcen reichen nicht aus, um alle Berichte zu lesen. Ich habe jedoch den Eindruck, dass genau über diese Stichpunkte nicht gesprochen wird. Stattdessen wird die Bevölkerung verantwortlich gemacht: Sie würden zu viele Leistungen in Anspruch nehmen, zu viel fordern, zu früh in den Notfall gehen. Aber wo sollen sie denn hingehen, wenn es kaum Hausärtz*innen gibt und somit auch keinen Notfalldienst? Ja, da wären auch schon wieder beim Fachkräftemangel. An all jene, die finden, man solle halt nicht mehr bei jedem alles machen, habe ich Fragen: Sagen Sie das auch, wenn es um Ihre Liebsten geht? Dann wenn Sie wissen, wenn diese Behandlung nicht gemacht wird, stirbt dieser Mensch? Sagen Sie das auch, wenn Sie es sind, die Angehörigen erklären müssen, dass ihr Angehöriger* vielleicht gerettet werden kann, aber wegen finanzieller Aspekte gar nicht erst der Versuch gemacht wird? Halten Sie dann das Sterben, Leiden dieser Menschen (Betroffene/Angehörige) aus? Bevor sich nicht mit diesen Fragen auseinandergesetzt wurde, sollte sich niemand mehr einen Artikel oder Kommentar anmassen.

Aber nicht nur die Bevölkerung, auch die Pflege wird wieder einmal verantwortlich gemacht. Zu diesen beiden Aussagen liessen sich Spitaldirektoren in der Sonntagzeitung hinreissen:

 

«Viele Mitarbeitende aus Ärzteschaft und Pflege haben nach der Pandemie ihre

Work-Life-Balance überdacht und das Pensum reduziert. Das bedeutet aber auch, dass wir seit Corona einen massiven Fachkräftemangel haben – und der lässt die Löhne naturgemäss steigen.»

 

«Allein die Pflegeinitiative hat zu einem massiven Kostenschub geführt. Eine diplomierte Pflegefachperson mit Berufserfahrung verdient bei uns nahezu 8000 Franken im Monat, wenn man Nacht- und Wochenenddienste berücksichtigt. Das ist viel, wenn Sie das mit anderen Berufsgruppen vergleichen, die auch am Wochenende arbeiten, zum Beispiel Köche oder Polizisten»

 

Wer genau diese Aussagen getätigt hat, lässt sich in der Sonntagszeitung nachlesen und hat für mich keine Relevanz. Sie sind aber beide so was von daneben und ich werde mich jetzt gerne damit auseinandersetzen. Sie haben mich auch gerade absolut auf dem «richtigen Fuss» erwischt. Nach einem Nachtdienst, an welchem meine Station a) überbelegt war und b) ich einen Patienten begleitete, der mehrere Stunden (insgesamt über 10) auf seine Operation warten musste, unangenehme Begleiterscheinungen inklusive. In so einer Stimmung, in der ich relativ hilflos das Leiden eines Menschen aushalten musste, trafen mich diese Aussagen mitten ins Herz. Was da geäussert wurde, ist ein Schlag ins Gesicht jeder Pflegefachperson. Aber werden wir mal konkret und schauen wir die Aussagen an:

 

«Viele Mitarbeitende aus Ärzteschaft und Pflege haben nach der Pandemie ihre

Work-Life-Balance überdacht und das Pensum reduziert. Das

bedeutet aber auch, dass wir seit Corona einen massiven Fachkräftemangel haben – und der lässt die Löhne naturgemäss steigen.»

 

Die Pandemie hat beide Berufsgruppen, Ärzteschaft und Pflege an den Rand der Erschöpfung gebracht. Sie hat uns viele erfahrene Berufsleute gekostet, die mit Burnout oder auf dem Weg dorthin ausgestiegen sind. Und zwar für immer. Ich möchte daran erinnern, dass pro Monat 300 Pflegende aus dem Beruf aussteigen. Die Pandemie hat uns erschöpft und teilweise auf traumatisiert zurückgelassen. Ein weiterer blinder Fleck, über den nicht gesprochen wird. Weder Pflegende noch Ärzteschaft reduzieren das Pensum, weil es gerade so modern ist. Das Pensum zu reduzieren ist zumindest Selbstschutz, wenn nicht sogar Notwehr. Die Alternative dazu sind Burnouts und Berufsausstiege. Ich kann mich irren, aber ich halte diesen Mechanismus für wenig zielführend. Der Fachkräftemangel war übrigens schon vor der Pandemie da, er wurde einfach ignoriert, auch weil die Pflegenden noch so vieles auffingen und möglich machten. Mit der Pandemie ist genau dieses System endgültig kollabiert. Zu den Löhnen werde ich mich bei der zweiten Aussage noch äussern. Hier nur so viel: Die Löhne von Pflegefachpersonen sind kantonal festgesetzt. Der Spielraum also nicht sonderlich gross. Bei den Klinikdirektionen sieht das meines Wissens ganz anders aus. Ob das wohl auch ein blinder Fleck ist?

 

«Allein die Pflegeinitiative hat zu einem massiven Kostenschub geführt. Eine diplomierte Pflegefachperson mit Berufserfahrung verdient bei uns nahezu 8000 Franken im Monat, wenn man Nacht- und Wochenenddienste berücksichtigt. Das ist viel, wenn Sie das mit anderen Berufsgruppen vergleichen, die auch am Wochenende arbeiten, zum Beispiel Köche oder Polizisten»

Absolut faszinierend, dass die Pflegeinitiative bereits kostet, bevor sie überhaupt umgesetzt wurde (Ironie off). Zu den 8000 Franken, welche eine Pflegefachfrau verdienen soll. (Funfakt: Soviel habe ich nicht einmal in einer Leitungsfunktion verdient) Eine liebe Freundin hat das mal ausgerechnet, wie ein solcher Lohn zustande kommen könnte (sie hat dazu die Zahlen aus dem Kanton Bern genommen, aber so gross können die Unterschiede nicht sein, da ja vorgegeben) Also, um diese 8000 zu verdienen müsste eine Pflegefachperson 100% arbeiten, 15 Jahre Berufserfahrung vorweisen, pro Monat 5 Nachtdienste und 10 Spätdienste machen. So würde sie diese 8000 annähernd erreichen. Das ist kein realistisches Szenario. Resp. es dürfte Seltenheitswert haben Zum krönenden Abschluss werden Pflegefachpersonen auch noch mit Köch*innen verglichen. Zuerst: Ich habe grössten Respekt vor dieser Berufsgruppe, wie jeder anderen auch. Doch hier werden wieder Äpfel mit Birnen verglichen. Koch/ Köchin ist eine Ausbildung EFZ! (Sekundarstufe). Pflegefachperson ist eine HF, wenn nicht sogar FH – Ausbildung (Tertiärstufe) ich schreibe den Lesenden die Intelligenz zu, dass sie den Fehler selbst finden. Für einen Spitaldirektor finde ich einen solchen Vergleich mehr als peinlich.

Den Polizisten könnten wir auch lassen, allerdings haben 2011 Pflegende geklagt, damit sie gleich viel verdienen wie ebendiese. Freiwillig wurde ihnen diese «Lohngleichheit» nicht zugestanden. Ach ja, und der Ausbildungslohn differiert um ca 2000.-, die Pflegefachpersonen in Ausbildung weniger verdienen.

 

Zum Abschluss möchte ich eines in aller Deutlichkeit festhalten: Nein, die Pflege spurt nicht mehr einfach. Sie macht nicht mehr schweigend Unmögliches möglich, erträgt, was nicht zu ertragen ist. Die Zeit, in der Pflege zum «Gotteslohn» erhältlich war, ist schon lange vorbei. Pflege ist eine Profession, weil sie weder Frau noch Mann in die Wiege gelegt wird. Pflege leistet einen wichtigen Beitrag in unserem Gesundheitswesen und hat es darum verdammt noch mal auch verdient, dass sie anständig bezahlt wird! Der Fachkräftemangel hat uns zur Macht gemacht. Es wäre nicht nötig, diese nun zu nutzen, wenn wir zuvor nicht jahrelang klein gehalten, ignoriert und ausgenommen worden wären.

 

Ich danke für die Aufmerksamkeit und verbleibe mit freundlichen Grüssen

 

 

Patricia Tschannen

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Kommentare: 7
  • #1

    Ira Müller (Donnerstag, 04 April 2024 11:42)

    Gut gebrüllt, Löwin!
    (Eine Aussteigerin)

  • #2

    beatrix pauciello (Donnerstag, 04 April 2024 12:07)

    meine liebe
    du sprichst mir aus dem herzen! ich danke dir, bist du ein sprachrohr für uns "überbezahlte und pensum reduzierenden pflegefachkräfte"

    zu erleben, wie die obrigkeit und politik schläft und nur nach ausflüchten sucht, macht krank. unser gesundheitssystem und deren hauptakteure.
    änderung?

    und trotz der tollen bezahlung und kleineren pensen steigen immer noch so viele aus dem beruf aus.
    schade, dass darüber nicht nachgedacht wird.

  • #3

    Esther Stössel (Donnerstag, 04 April 2024 19:02)

    Patricia deine Worte sind Richtig, darf ich deinen Post weitergeben? LG Esther und ich bin auch so eine Hexe. Super

  • #4

    Patrica Tschannen (Freitag, 05 April 2024 08:59)

    Selbstverständlich darf dieser Blog weiter gegeben werden.
    Liebe Grüsse

    Patricia Tschannen

  • #5

    Nicole (Freitag, 05 April 2024 15:17)

    Vielen Dank für die Erklärung mit den 8000. Ich habe die Zahl auch gelesen und habe mir gedacht "Hoppla, da isch ja öpis gange." Umso wichtiger, dass du das einordnest, bzw. erklärst, dass das eben nicht so ist.

  • #6

    gabi (Donnerstag, 11 April 2024 09:05)

    Ich glaube der Löwin auch. Das ist genau so und sie spricht aus dem Herzen. Die grössten Löhne hat die Administration und die Vorsitzenden irgendwelcher Gremien, die das alles entscheiden. Ich werde bald pensioniert. Aber es war schon immer so, dass die Rechnungen über die untersten Stufen ausgetragen wurden. Diese leisten viel und schwerste Arbeit, jedoch werde diese weder anerkannt noch gut bezahlt. Es ist eine Schande für unsere Gesellschaft, dass ein Manager (viele Branchen) Millionen verdient und die Angestellte ausgelaugt werden. Moderne Sklaverei! Es ist wie in der Politik - Der Fisch beginnt am Kopf zu stinken! Leider bleibt der Fisch trotzdem am Leben, auch wenn er stinkt und verdirbt vielen das Leben. So eine Schande!

  • #7

    Sabine Jüngling (Dienstag, 16 April 2024 08:36)

    Spitze Kommentar, bravo.